ADHS
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-, Hyperaktivitätsstörung. Hyperaktive Kinder und Jugendliche werden umgangssprachlich oft als "Zappelphilipp" bezeichnet. Weltweit sind etwa fünf von hundert Kindern und Jugendlichen von ADHS betroffen. Knaben sind es rund zwei- bis viermal häufiger als Mädchen.
Definition
Unaufmerksam, impulsiv und überaktiv – das sind die drei typischen Anzeichen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Nicht immer treten alle diese Anzeichen zugleich auf; manche Kinder sind eher impulsiv-hyperaktiv, andere vorwiegend unaufmerksam.
Eine ADHS liegt vor, wenn diese Merkmale bei einem Kind vor dem sechsten Lebensjahr auftreten, mehr als sechs Monate ohne Unterbrechung anhalten und das Kind deswegen in der Schule und in der Familie beeinträchtigt ist.
Für eine sichere ADHS-Diagnose ist es wichtig, dass andere körperliche und psychiatrische Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausgeschlossen werden.
Besondere Begabungen bei ADHS-Kindern
ADHS-Kinder haben entgegen ihren Einschränkungen oft besondere Fähigkeiten wie:
- Simultanes Handeln (mehreres fast gleichzeitig tun)
- Ungebremste Energie (vor allem bei körperlicher Aktivität/Sport)
- Schnelles Arbeiten (negativ formuliert: oberflächlich und unkontrolliert)
- Hochleistungen unter Druck bei Motivation
- Schnelles Begreifen und Reagieren
- Gute Wahrnehmung von Stimmungen
- Optimismus (Stehauf-Männchen)
- Grosse Begeisterungsfähigkeit
- Reizoffenheit
- Neugierde
- Kreativität und Innovation
- ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
- spontane Hilfsbereitschaft und Fürsorglichkeit
Merkmale / Symptome
ADHS zeigt sich in vielen Facetten, so zum Beispiel:
- Konzentrationsschwäche, Flüchtigkeitsfehler
- Mühe mit der Daueraufmerksamkeit
- Schwierigkeit zuzuhören
- Mühe mit Anleitungen und bei alltäglichen Verrichtungen
- Organisationsschwierigkeiten
- Mühe sich länger geistig anzustrengen
- Häufiges Verlieren und Verlegen von Sachen
- Leichte Ablenkbarkeit durch äussere Reize
- Übermässige Vergesslichkeit im Alltag
Hyperaktivität und Impulsivität können sich zeigen als:
- Ständige Unruhe in Händen und Füssen
- Mühe ruhig sitzen zu bleiben
- "Zappelphilipp" (innere Unruhe bei Erwachsenen)
- Schwierigkeit ruhig zu spielen – "Innerlich wie von einem Motor angetrieben"
- Übermässiges Reden
- Antworten, bevor eine Frage vollständig gestellt wurde
- Nicht warten können
- Störendes Verhalten gegenüber anderen
Begleiterscheinungen
50 bis 80 Prozent aller ADHS-Kinder sind von Begleiterscheinungen betroffen. Am häufigsten sind:
- motorische Entwicklungsstörungen (bis zu 50 Prozent). Diese treten zum Beispiel auf als versehentliches Umstossen von Gegenständen, Anstossen an Türen, schlechte Handschrift
- oppositionelle Verhaltensstörungen (45–55 Prozent). Diese treten z. B. auf als häufige und ausgeprägte Wutanfälle sowie geringe Frustrationstoleranz
- depressive Störungen (25–30 Prozent)
- Rechenschwäche (12–33 Prozent)
- Lese- und Rechtschreibstörung (8–39 Prozent)
- Tics (12–34 Prozent), zum Beispiel Blinzeln, Schulterzucken, Räuspern, Lautäusserungen.
Schwerwiegende Folgen
Die beschriebenen Begleiterscheinungen belasten die betroffenen Kinder und Jugendlichen sehr. Sie führen häufig zu sozialer Isolation und Ausgrenzung. Auch der Schulerfolg – und damit das Selbstwertgefühl – leiden stark darunter.
Bei Kindern mit ADHS ist die Fähigkeit eingeschränkt, etwas konzentriert wahrzunehmen und das Wahrgenommene im Gedächtnis zu behalten und wiederzugeben.
Diagnostik / Abklärung
Diagnostik
Es gibt bis heute weder eine Diagnostik mit Geräten noch biologische Marker, die zweifelsfrei ADHS beweisen.
Deshalb werden folgende Verfahren angewandt:
- Befragung des Umfeldes, das heisst Gespräche mit Eltern, Lehrpersonen und Erziehern, um ein möglichst genaues Bild der Lebenssituation und des Verhaltens des Kindes zu erhalten.
- direkte Verhaltensbeobachtung.
- körperliche und psychologische Untersuchungen (Konzentrations-, Entwicklungs- und Intelligenztests).
Abklärung
Häufig ist die Kinderärztin oder der Kinderarzt die erste Anlaufstelle für die Eltern. Sie oder er untersucht das Kind in erster Linie körperlich, schätzt den Entwicklungsstand ein und prüft die Motorik. Dies reicht jedoch für eine umfassende Abklärung nicht aus. Ein detaillierteres Bild ergibt sich in einer ganzheitlichen Abklärung durch spezialisierte Schulpsychologinnen und -psychologen oder Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater.
Eine professionelle Abklärung besteht aus mehreren Schritten:
- Ausschliessen von körperlichen Krankheiten und Feststellen der Funktionsfähigkeit des Hirns
- ein Erstgespräch, in dem die Vorgeschichte genau aufgenommen wird
- eine umfangreiche Testdiagnostik. Geprüft werden der Intelligenzquotient, die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit, die visuelle und auditive Merkfähigkeit sowie der Entwicklungsstand des Kindes. Darüber hinaus wird auch die emotionale Ebene des Kindes untersucht.
Während des ganzen Verfahrens beobachtet die Testperson das Verhalten des Kindes genau.
Alle Teile der Abklärung fliessen in den abschliessenden fachärztlichen Befund mit ein. Ein grosser Teil der Abklärung enthält subjektive Komponenten, je nachdem wie die Testperson das kindliche Verhalten einschätzt.
Behandlung
Die Behandlung muss individuell abgestimmt sein und kombiniert verschiedene Massnahmen:
- Aufklärung und Beratung der Eltern, des Kindes oder Jugendlichen (ab dem Schulalter), der Erziehenden und Lehrpersonen mit dem Ziel, konkrete Problemsituationen im Alltag zu verbessern.
- Elterntraining und Interventionen in der Familie, einschliesslich Familientherapie.
- Interventionen im Kindergarten und in der Schule (integrative oder separative Sonderschulmassnahmen).
- verhaltenstherapeutische Massnahmen.
- medikamentöse Therapie.
- evtl. hilfreich sind auch diätetische Behandlungen und Neurofeedback.
Dauerhafte Betreuung
Die Behandlung von ADHS muss von spezialisierten Ärztinnen und Ärzten und psychologischen Fachpersonen durchgeführt und überwacht werden. Der Erfolg und die Angemessenheit der Behandlung sollen regelmässig kontrolliert werden. Bei medikamentöser Behandlung sollte die Ärztin oder der Arzt in Abstimmung mit dem Kind und seinen Eltern regelmässig Auslassversuche durchführen. Beim Auslassversuch wird ein Medikament vorübergehend nicht mehr eingenommen, um zu prüfen, ob es wirksam ist beziehungsweise angepasst werden muss.
Der Umgang und die Behandlung von ADHS erfordern von allen Beteiligten enge Zusammenarbeit, gegenseitige Toleranz und das Bewusstsein, dass jederzeit auch unerwartete Veränderungen eintreten können.
Übergang ins Erwachsenenalter
Bei etwa sechs von zehn Betroffenen besteht ADHS auch im Erwachsenenalter weiter. Oft verändern sich die Symptome: Die körperliche Unruhe (Hyperaktivität) nimmt ab und an ihre Stelle tritt häufig eine innere Unruhe. Die Konzentrationsstörungen bleiben unverändert bestehen und treten in den Vordergrund.
Bildung als Prävention
Die Schulkarrieren von ADHS-Betroffenen sind oft von Schwierigkeiten, Misserfolgen, Unverständnis geprägt. Der Übertritt in die Berufswelt mit einer Ausbildung ist daher für viele ein Erfolg versprechender Neuanfang. Ein entscheidender Faktor ist dabei die Unterstützung durch die Berufsbildnerinnen und Berufsbildner im Lehrbetrieb und in der Berufsschule.
Eine erfolgreich beendete Berufsausbildung hat enorme präventive Wirkung für das weitere Leben: Sie fördert den Selbstwert und das Ansehen und eröffnet positive Aussichten für das Berufsleben. Zudem vermindert sie mögliche Begleiterkrankunen wie Sucht, Depression und Angststörung.
Leistungen des SONNENBERG
Für Jugendliche im Oberstufenalter bieten wir sowohl die separative als auch die integrative Sonderschulung an.
Separative Sonderschule
In der Abteilung Sprechen/Begegnen unserer separativen Sonderschule in Baar treffen die Jugendlichen mit ADHS auf Bedingungen, die auf sie zugeschnitten sind:
- Je nach Bedarf stehen die Tagesschule mit Mittagsbetreuung, das Teilinternat oder das Wocheninternat zur Verfügung.
- In allen Bereichen der Heil- und Sozialpädagogik arbeiten ausschliesslich Fachleute.
- Der Unterricht findet in kleinen, übersichtlichen und stabilen Lerngruppen statt.
- Die Zahl der Bezugspersonen ist klein. Das hilft den Jugendlichen, stabile Beziehungen aufzubauen.
- Die Bezugspersonen der Schule und des Bereichs Wohnen arbeiten bei der individuellen Förderplanung eng zusammen.
- Zwischen den Eltern und den Bezugspersonen aus Wohnen und Schule besteht eine koordinierte intensive Zusammenarbeit.
- Zweimal jährlich finden Standortgespräche statt, an denen die Bildungs- und Erziehungsziele bestimmt und überprüft werden.
- Schulische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter begleiten und ergänzen die Lehrpersonen.
- Der Schulalltag auf der Oberstufe ist geprägt von einer sorgfältigen Berufsfindungs- und Berufswahlarbeit.
- Wenn notwendig oder für die weitere Entwicklung sinnvoll, sind verschiedene medizinische und pädagogische Therapien möglich.
- Den Eltern steht die Beratungsstelle des SONNENBERG für Fach- und Erziehungsberatung zur Verfügung.
- Während der beruflichen Erstausbildung besteht die Möglichkeit der Ausbildungsbegleitung durch die Fachleute des SONNENBERG (von der IV finanziert).
Integrative Sonderschulung
Bei der integrativen Sonderschulung besuchen die Jugendlichen die Regelschule ihres Wohnorts und werden von einer Heilpädagogin beziehungsweise einem Sozialpädagogen eng begleitet.
Die integrative Sonderschulung beruht auf vier Säulen:
- Die schulische Heilpädagogin stellt im Normalfall die heilpädagogische Beratung und Unterstützung der Jugendlichen während und neben dem Unterricht sicher.
- Daneben berät sie die Lehrpersonen der Regelschule im Umgang mit den Jugendlichen und ihren Schwierigkeiten und unterstützt sie in methodisch-didaktischen Fragen.
- Der Sozialpädagoge unterstützt und entlastet vor allem die Familien der Jugendlichen.
- Das Kompetenzzentrum steht mit einer Reihe von Angeboten zur Verfügung, um den Erfolg der integrativen Sonderschulung abzusichern: Beratungsstelle, Time-Out, Auffang- und Fördergruppe.
Die zuständige Abteilungsleitung im SONNENBERG stellt die Verbindung zur Schulleitung der Regelschule sicher und ist besorgt für einen möglichst störungsfreien Austausch unter den Beteiligten.
Die integrative Sonderschulung ist bei Verhaltensstörungen ebenso komplex wie die einzelnen Fälle selber. Typisch für schwer verhaltensauffällige Jugendliche ist, dass nicht nur eine komplexe Störung wie ADHS vorliegt, sondern dass in der Regel auch die Familie und das Schulsystem an ihre Grenzen stossen und Unterstützung benötigen.
Rasch handeln
Unsere bisherigen Erfahrungen mit verhaltensauffälligen Jugendlichen zeigen, dass individualisierte Lösungen nötig sind. Wenn uns eine Anfrage erreicht, müssen wir davon ausgehen, dass schon seit längerer Zeit grössere Probleme vorliegen und dringender Handlungsbedarf besteht. Dazu stehen flexible, schnell anwendbare Massnahmen zur Verfügung. Wird der Übertritt von der integrativen in die separative Sonderschulung nötig, so garantiert der SONNENBERG einen Platz.
Schule und Unterricht
Schulen und Lehrpersonen, die erfolgreich mit Jugendlichen arbeiten, die von ADHS betroffen sind, orientieren sich an ein paar wenigen Grundsätzen:
- individualisierter Unterricht
- klar strukturierter und rhythmisierter Unterricht
- Ansprechen möglichst aller Sinneskanäle
- Einsatz von Blickkontakt und Körpersprache
- Einsatz von Kommunikationskarten
- Möglichkeiten für Rückzug schaffen: sich herausnehmen dürfen/können, wenn (oder noch besser) bevor es zu viel wird
- eine reizarme Lernumgebung schaffen
- für genügend Bewegung sorgen
- positive Verstärkung, Ansporn vermitteln
- Feedback geben – Feedback holen – Rückfragen
- Für die tägliche Kommunikation mit den Eltern: Verwenden eines Kontakthefts
- generell: Unterricht nach dem EWA-Prinzip: Ermutigung – Wertschätzung – Anerkennung
Unterstützung für Lehrpersonen
Der Umgang mit ADHS-Schülerinnen und -Schülern kann im Schulalltag sehr herausfordernd sein. Falls Sie als Lehrperson Unterstützung durch eine aussenstehende Fachperson möchten, stehen wir gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie bitte unsere Beratungsstelle.
Behörden (IV)
Für die von ADHS Betroffenen und ihre Familien ist es wichtig, dass die Behinderung bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet und von dieser als Geburtsgebrechen anerkannt wird. Die elektronischen Formulare sind auf den Websites der kantonalen IV-Stellen erhältlich.
- Die IV finanziert bei Kindern und Jugendlichen mit anerkannten Geburtsgebrechen medizinische Massnahmen wie Physio- oder Ergotherapie und Hilfsmittel.
- Während der beruflichen Erstausbildung finanziert die IV die behinderungsbedingten Mehrkosten. Darunter fällt das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ), das im SONNENBERG angeboten wird, sowie die Ausbildungs- und Studienbegleitung.
- Damit dies möglich ist, ist die ärztliche Diagnose ADHS nötig. Diese muss vor dem 9. vollendeten Altersjahr erfolgen und die Behandlung begonnen werden. ADHS fällt in der Liste der Geburtsgebrechen unter die Ziffer 404.
Da die Abklärung und Diagnostizierung wie auch die Kommunikation mit der IV viel Zeit benötigen, muss dies alles frühzeitig angegangen werden.