Sozialverhalten
Für Menschen, die von einer Behinderung betroffen sind, ist es nicht einfach, sich in der Gesellschaft zu bewegen. Häufig treffen sie auf Hindernisse, die es erschweren teilzuhaben. Das kann sich auf das Sozialverhalten auswirken und zu Abweichungen von der "Normalität" führen.
Definition
Als Störungen des Sozialverhaltens werden psychische Störungen und Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen bezeichnet. Das Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen verletzt die grundlegenden Rechte anderer Menschen. Wichtige altersentsprechende Erwartungen an das Verhalten der betreffenden Kinder und Jugendlichen werden nicht erfüllt. Störungen des Sozialverhaltens sind also schwerwiegender als gewöhnlicher kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit.
Störungen des Sozialverhaltens können auch in Kombination mit psychiatrischen Krankheiten auftreten.
Diagnose und Symptome
Voraussetzung für die Diagnosestellung nach ICD-10* ist, dass das Kind, der jugendliche Mensch über mehr als sechs Monate durch Muster oppositionell-aggressiven Verhaltens aufgefallen ist. Nach ICD-10 sind die Leitsymptome der Störung des Sozialverhaltens (F91):
- Hohes Mass an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisierenungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche
- Grausamkeit gegenüber anderen Menschen und/oder Tieren
- Erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum
- Feuerlegen
- Stehlen
- häufiges Lügen
- die Schule schwänzen
- von zu Hause weglaufen
Isolierte dissoziale** Handlungen alleine reichen nicht für die Diagnose.
* Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben.
** Dissozial heisst, aufgrund bestimmten Fehlverhaltens nicht oder nur bedingt in der Lage sein, sich in die Gesellschaft einzuordnen.
Störungen
Störung des Sozialverhaltens und ADHS
Bei der Diagnosestellung nach F90.1 müssen sowohl die notwendigen Kriterien der ADHS, als auch die der Störung des Sozialverhaltens (F91) erfüllt sein. Leicht ausgeprägte oder situationsspezifisch auftretende Konzentrationsschwierigkeiten oder Hyperaktivität sind häufig mit Störungen des Sozialverhaltens konfundiert. Dies rechtfertigt jedoch noch keine Diagnose einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens. Vielmehr ist eine gründliche Ausschlussdiagnostik erforderlich.
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
Diese Gruppe von Störungen ist durch die Kombination von anhaltendem, aggressiven, dissozialen oder aufsässigen Verhaltens charakterisiert, mit offensichtlichen und eindeutigen Symptomen von Depression, Angst oder anderen emotionalen Störungen.
Ursachen von Störungen des Sozialverhaltens
In einem gewissen Umfang gehören oppositionelles Trotzverhalten und dissoziale Verhaltensweisen (z.B. Lügen, kleinere Diebstähle, gelegentliche körperliche oder verbale Auseinandersetzungen) zu normalen Entwicklungsphasen bei Kindern. Sie dienen der Erkundung des eigenen Einflusses, der Abgrenzung sowie der Identitätsentwicklung der Kinder.
Dem Grossteil der Kinder gelingt es, im Verlauf der Entwicklung ihre aggressiven und antisozialen Impulse zu kontrollieren. Einem kleineren Teil der Kinder gelingt die Impulskontrolle, Reifung und Sozialisation nicht oder nur unzureichend.
Die Ursachen für Störungen des Sozialverhaltens im Kindes- und auch Jugendalter sind vielfältig. Es können biologische Faktoren, das Erziehungsverhalten sowie Umweltfaktoren aber auch bestimmte Eigenschaften des Kindes (Temperament, Impulskontrolle) eine Rolle spielen.
Für sich genommen haben Temperament oder Geburtsfaktoren keinen wesentlichen Einfluss auf spätere Verhaltensstörungen. Entscheidend ist, wie Eltern und sonstige Erziehungspersonen auf die besonderen Eigenschaften ihres Kindes eingehen. Erziehung ist der wichtigste Faktor bei Verhaltensproblemen und die leidet vor allem unter drei Aspekten: Zu wenig Aufmerksamkeit, bedingt durch Desinteresse, Zeitmangel oder Stress (1), mangelnde soziale Unterstützung (2) und psychische Probleme (3). Leiden die Eltern unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Alkohol- oder Drogensucht sind sie in der Regel nicht in der Lage, für das Kind in einem angemessenen Rahmen da zu sein und ihre Vorbildfunktion zu erfüllen. Familiärer Stress und die Erziehungskompetenz für Kinder im Vorschulalter besitzen eine besondere Bedeutung für die Stabilität aggressiven Verhaltens.
Eine besondere Bedeutung kommt auch dem Einfluss der Peer-Gruppe zu: Insbesondere bei Substanzmissbrauch und aggressiv-dissozialem Verhalten bestehen negative Einflüsse durch Gleichaltrige. Für die Entwicklung von Aggressivität sind bei Mädchen familiäre Bedingungen wie das erlebte Erziehungsklima und Persönlichkeitsmerkmale, für Jungen hingegen Peergruppen, d.h. der Einfluss Gleichaltriger, entscheidender.
Zusammenfassung der Einflussfaktoren
Biologische Faktoren:
Männliches Geschlecht, niedriges Aktivitätsniveau, prä- und perinatale Risiken (Alkohol, Rauchen, andere Drogen)
Familiäres Umfeld und Erziehung:
Gewalttätiges Verhalten der Eltern, niedriger sozialer Status der Eltern, inkonsequentes Erziehungsverhalten; Erziehungsverhalten, unzureichende Erziehungskompetenzen
Schule:
Unzureichende Qualität von Schule und Ausbildung, schlechtes Schulklima, (u.a. bedingt durch den Umgang zwischen Lehrern und Schülern, Angeboten in der Schule, Gestaltung der Schulumgebung, autoritärer oder restriktiver Unterrichtsstil
Psychische Merkmale:
Unzureichende Impulskontrolle und Emotionsregulation, verzerrte sozial-kognitive Wahrnehmung, schlechte Problemlösestrategien, unzureichendes Einfühlungsvermögen, niedrige Frustrationstoleranz
Sonstiges:
Gewalttätige Peergroup (Gleichaltrigengruppe), sozialer Druck, unzureichende soziale Integration, Einflüsse der Medien
Behandlung
Für eine erfolgreiche Behandlung von Störungen des Sozialverhaltens ist es wichtig, dass Massnahmen frühzeitig ergriffen werden. Sie werden abhängig von den Ursachen der Störung gestaltet und setzen in verschiedenen Bereichen an. Dazu werden die Beziehungen in der Familie und im Schulmilieu, die Peergruppen-Zugehörigkeit und das Freizeitverhalten des Betroffenen untersucht.
In der Regel wird zunächst eine psychiatrische Behandlung eingeleitet, beispielsweise in Form einer Verhaltenstherapie, in der das Kind bzw. der Jugendliche unter anderem lernt, impulsives und aggressives Verhalten zu kontrollieren. In manchen Fällen kann eine medikamentöse Therapie unterstützend wirken.
Auch die Eltern werden in die Therapie einbezogen. Elterntrainings können helfen, die Alltagsbelastung in den Familien zu reduzieren. Dabei werden Eltern beispielsweise Möglichkeiten aufgezeigt, dem Kind Regeln und Grenzen zu setzen und eine sinnvolle Kontrolle und Aufsicht wahrzunehmen. Auch werden sie darin geschult, erwünschtes Verhalten des Kindes zu belohnen und sein positives Verhalten zu verstärken.
Schule und Unterricht
Parallel müssen Massnahmen ergriffen werden, welche die Fortsetzung der schulischen Laufbahn, die Berufsvorbereitung und das Training alltagspraktischer und sozialer Fertigkeiten fördern und ermöglichen. Dafür bedarf es fast in jedem Fall eines sonderpädagogischen Rahmens.
Für eine wirksame Therapie ist eine kontinuierliche Behandlung mit konsequenten pädagogischen Massnahmen wichtig. Zunehmend werden Präventionsansätze zu Aggressions- und Gewaltprävention bereits im Kindergartenalter sowie im Grundschulalter eingesetzt. Sie können auf Dauer dazu beitragen, negativen Entwicklungen frühzeitig entgegenzuwirken.
Leistungen des SONNENBERG
Unsere Erfahrungen mit Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens zeigen, dass immer individualisierte Lösungen notwendig sind. Wenn uns eine Anfrage erreicht, müssen wir davon ausgehen, dass schon seit längerer Zeit grössere Probleme vorliegen, der Leidensdruck hoch ist und dringender Handlungsbedarf besteht. Dazu stehen flexible, schnell anwendbare Massnahmen zur Verfügung.
Separative Sonderschule
In der Abteilung Sprechen-Begegnen unserer separativen Sonderschule in Baar treffen die Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens auf passende Bedingungen.
- Je nach Notwendigkeit stehen die Tagesschule mit Mittagsbetreuung, das Teilinternat oder das Wocheninternat zur Verfügung.
- In allen Bereichen der Heil- und Sozialpädagogik arbeiten Fachpersonen.
- Der Unterricht findet in kleinen, übersichtlichen und stabilen Lerngruppen statt.
- Die Zahl der Bezugspersonen ist klein. Das hilft den Jugendlichen, stabile Beziehungen aufzubauen.
- Die Bezugspersonen der Schule und des Bereichs Wohnen arbeiten bei der individuellen Förderung eng zusammen.
- Zwischen den Eltern und den Bezugspersonen aus Wohnen und Schule besteht eine koordinierte, intensive Zusammenarbeit.
- Zweimal jährlich finden Standortgespräche statt, an denen die Bildungs- und Erziehungsziele bestimmt und überprüft werden.
- Schulische Sozialpädagog*innen begleiten und ergänzen die Lehrpersonen.
- Der Schulalltag auf der Oberstufe ist geprägt von einer sorgfältigen Berufsfindungsarbeit, die von den IV-Berufsberatern begleitet und unterstützt wird.
- Für Psychotherapie arbeitet der SONNENBERG eng mit der Triaplus AG zusammen, die für die psychiatrische Versorgung der Kinder und Jugendlichen des Kantons Zug zuständig ist.
- Wenn notwendig, sind verschiedene medizinische und pädagogische Therapien im Hause möglich (Logopädie, heilpädagogisches Reiten, Physio- und Ergotherapie).
- Den Eltern steht die Beratungsstelle des SONNENBERG für Fach- und Erziehungsberatung zur Verfügung.
- Während der beruflichen Erstausbildung besteht die Möglichkeit der Ausbildungsbegleitung durch Fachpersonen des SONNENBERG (von der IV finanziert).
Leistungen der Invalidenversicherung (IV)
Wenn nach der Anmeldung bei der Invalidenversicherung der Anspruch auf berufliche Massnahmen durch die IV bestätigt wird, stehen je nach Leistungsfähigkeit des Betroffenen, mehrere Möglichkeiten für die erstmalige berufliche Ausbildungen offen:
- eine Ausbildung im 1. Arbeitsmarkt, wobei die IV eine Ausbildungsbegleitung in Schule und Betrieb durch spezialisierte Fachpersonen (z.B. des SONNENBERG) finanziert,
- eine Ausbildung im geschützten Rahmen, die von der IV finanziert wird. Die Lehre im geschützten Rahmen findet in der Regel in einer spezialisierten Institution oder in einem spezialisierten Unternehmen statt.
Wenn es notwendig ist, kann die IV auch die Integration in die Arbeitswelt im Anschluss an die erstmalige berufliche Ausbildung durch zielgerichtetes Coaching finanzieren.